Der Elon Musk der 70er – Zum Tode von Lutz Kayser

Deutschland hat einen seiner großen Technik-Pioniere verloren – und kaum einer nimmt davon Notiz. Am 19. November ist Raumfahrt-Ingenieur Lutz Kayser mit 78 Jahren nach kurzer, schwerer Krankheit gestorben. Eine Rückschau

Lutz Kayser ist mittlerweile nur noch Raumfahrt-Aficionados und Wissenschaftshistorikern ein Begriff, und vielleicht dem einen oder anderen Journalisten, der seinen abenteuerlichen Parcoursritt durch die Weltgeschichte der 70er und 80er Jahren verfolgt hat – und dessen tragischen Ausgang.

Alle Welt mag derzeit gebannt auf Elon Musk und seine Unternehmungen, allen voran SpaceX und Tesla schauen – Deutschland hatte seinen ersten NewSpace-Entrepreneur großen Maßstabs bereits in den 70er Jahren.

Mehr zu Elon Musk und der neuen kommerziellen Raumfahrt im neuen Buch des Autors „Goldrausch im All“

Mit dem Unterschied, dass die deutsche Regierung sich dafür entschied, die Pläne Kaysers nach Kräften zu durchkreuzen, woran Kayser allerdings selbst nicht ganz unschuldig war.

Erste Erfolge als Raketenentwickler

Lutz Kayser mit einem Modell der so genannten OTRAG-Rakete
Screenshot aus OTRAG-Prospekt: Lutz Kayser mit einem Modell der so genannten OTRAG-Rakete

Die Geschichte beginnt damit, dass der Teenager Lutz Thilo Kayser im Haus seiner Eltern auf eigene Faust mit Raketentreibstoffen experimentiert, bis es sein Vater ihm zu einem eigenen „Testgelände“ in einem Steinbruch verhilft. Mit 17 Jahren hatte Kayser schon den Kontakt zur feinen Raumfahrtgemeinde um Peenemünde-Wissenschaftler und Raketen-Legende Eugen Sänger gesucht, der in Stuttgart das Institut für Physik der Strahlantriebe gegründet hatte (heute DLR-Forschungszentrum Stuttgart). Später machte der begabte Nachwuchs-Ingenieur ein Raumfahrt-Diplom an der Universität Stuttgart und arbeitete einige Jahre am Institut für Raumfahrtantriebe in Lampoldshausen, ebenfalls eine Sänger-Gründung und eine der ersten Adressen für Raketentriebwerke in Europa.

Doch Kayser wollte offenbar mehr als nur ein erfolgreicher Angestellter sein (eine Gemeinsamkeit mit den heutigen Raumfahrt-Gründern). Er gründete zunächst die Technologieforschungs GmbH, über die er so ziemlich alles an Service anbot, was man für den Bau einer Rakete benötigt. Mit Erfolg. 1971 bekam er 250.000 Mark vom Bundesforschungsministerium, um ein Konzept für eine Rakete auszuarbeiten, die weniger kosten sollten als die damaligen Ariane-Vorgängerinnen Europa II und III.

Diesel als Raketen-Kraftstoff und Scheibenwischer-Motoren von Bosch

Die montierte OTRAG-Rakete auf dem Startplatz
Screenshot aus OTRAG-Prospekt: die montierte Rakete auf dem Startplatz. Gut zu sehen: die verdreht montierten Triebwerke unter den Treibstoffröhren.

Kayser wagte die Revolution und legte ein Konzept vor, das nur wenig mit etablierten Raketen-Konstruktionen zu tun hatte. Dafür benutzt er eine Idee aus den 30er Jahren, die zahlreiche kleine Raketen zu einer großen Stufe bündelt. Kaysers Plan: Alle Bauteile und auch die Konstruktion sollen so billig und einfach wie möglich sein – ein Vorhaben und Denken, was aus heutiger Sicht nicht moderner sein könnte. So verwendete er als Treibstoffe Salpetersäure und Diesel. Das hört sich aberwitzig an, ergibt aber Sinn. Salpetersäure ist günstig und hat eine hohe Dichte, was für einen hohen Rückstoß-Effekt sorgt. Der günstige Diesel wiederum ist dem Kerosin sehr ähnlich. Als Raketenwände dienten Pipeline-Rohre von Krupp, den Schub regulierten Bosch-Scheibenwischer-Motoren, also ganz gewöhnliche Bauteile aus dem industriellen Supermarkt-Regal.

Die Zahl und Anordnung der 3-Meter langen Stahlröhren gaben den Aufbau der dreistufigen Rakete vor. Der war in der Tat ungewöhnlich bis dahin bei keiner der gängigen Trägerraketen je angewandt worden. Denn eine breite und kurze erste Stufe umschloss eine etwas weniger breite und höhere zweite Stufe, und die wiederum eine noch kleinere und noch höhere dritte Stufe. Die Stufen saßen also nicht aufeinander, sondern ineinander.

Da die Triebwerke aus Stabilitätsgründen um 90 Grad versetzt unter jeweils ein Viererpack Röhren montiert waren, bestand die letzte Stufe immer aus dieser Vierereinheit, ganz unabhängig wie viele weitere Röhren um sie herum gruppiert waren. Denn das war der Plan: Je nach Nutzlastbedarf konnte man die Rakete in unterschiedlichen Kombinationen zusammensetzen. Bei einer Anhörung vor einem Bundestagsausschuss 1975 in Bonn merkte der CDU-Abgeordneten Christian Lenzer Kayser gegenüber höhnisch an, „das hört sich alles so an, als ob es praktisch genüge, einige Fahrräder aneinanderzukoppeln, um am Ende im Ergebnis einen Porsche herauszubekommen.“[1] Damit lag Lenzer ganz und gar falsch, denn was Kayser bezweckte, war kein teurer Zweisitzer, sondern ein günstiger Lastwagen.

Versionen unterschiedlicher Röhren-Kombinationen der OTRAG-Rakete
Screenshot aus OTRAG-Prospekt: Versionen unterschiedlicher Röhren-Kombinationen der OTRAG-Rakete

Bernhard Leitenberger, der eine umfangreiche Raumfahrtwebseite (bernd-leitenberger.de) betreibt und zu allen gängigen Trägerraketen detaillierte Informationen zusammengetragen hat, gibt an, dass sich aus ökonomischen Gründen mehrere Röhren-Kombinationen anboten. Danach war die kleinste von der OTRAG vorgestellte Rakete 25 Meter hoch, bestand aus 64 Röhren, wog etwa 100 Tonnen und sollte etwa eine Tonne Last in den erdnahen Orbit befördern. Die größte OTRAG-Rakete war ebenfalls verhältnismäßig niedrige 24 Meter hoch, bestand aus 1024 Röhren, hatte ein Gewicht von 1600 Tonnen und sollte 16 Tonnen Nutzlast in den Orbit schießen. Zum Vergleich: Die vollgetankte Mondrakete Saturn V hatte ein Startgewicht von etwa 2900 Tonnen.

Die so vielfach skalierbare Rakete sollte die etablierten Anbieter aus den USA und Europa um ein Vielfaches unterbieten. Deren Ökonomie zweifelt er mit starken und plastischen Vergleichen an. „Ist es wirtschaftlich Kartoffeln mit einem Rolls-Royce zu transportieren und den auch noch mit Scotch zu betreiben? So einen Unsinn kann man nur dem dummen Steuerzahler aufzwingen.“

Kein Platz für NewSpace im Deutschland der Nachkriegszeit

Das hört sich unglaublich an, aber die wirklich irre Geschichte kommt erst noch. Dabei ist es manchmal schwierig, nach so langer Zeit die Legende von der Realität zu trennen, denn durch die Story-Zutaten Kalter Krieg, finstere Diktatoren, viel Geld und reichlich Eitelkeit haben alle Beteiligten eine sehr unterschiedliche Sicht auf die Dinge. Trotzdem lassen sich wesentliche Eckpunkte dieser frühen NewSpace-Geschichte herausarbeiten.

Detailansichten des OTRAG-Triebwerks
Screenshot aus OTRAG-Prospekt: Detailansichten des Triebwerks

Zunächst lief alles gut für Kayser und sein Konzept. Das Bundesforschungsministerium gab seiner Firma 1971 fast vier Millionen Mark, um seine Idee auszuarbeiten und sein Triebwerk zu entwickeln. Das war beachtlich, denn damals waren Raketen nicht zuletzt eine Angelegenheit nationaler Sicherheit. Wer Rakete sagte, meinte zumeist Atomrakete, denn es war die Zeit des Kalten Krieges. Zudem war Deutschland noch immer notorisch des militärischen Machthungers verdächtig, es war ja keine 30 Jahre zuvor besiegt worden und formal ein von den Alliierten besetztes Land. Tatsächlich war es bald aus mit der staatlichen Unterstützung. Die Bundesrepublik entschied sich 1974 für die Entwicklung einer europäischen Rakete, aus der die Ariane hervorging. Für Kaysers Billigrakete war kein Platz mehr, wirtschaftlich nicht und politisch schon gar nicht.

Ein Elder Spaceman als Investorenfänger

Das war der Startschuss für die OTRAG, die Orbital Transport- und Raketen-Aktiengesellschaft. Lutz Kayser gründete das Unternehmen, um sein Konzept als privater Raumfahrt-Unternehmer umzusetzen. Das war mindestens genauso revolutionär wie die Rakete selbst. Selbstständige kommerzielle Raumfahrt war bisher eher ein Konzept visionärer Wirtschaftsführer wie dem General Electric-Boss Ralph Cordiner gewesen und beschränkte sich bis dahin auf den Betrieb von Nachrichten-Satelliten (Intelsat). Und selbst die waren am Ende irgendwie staatlich, denn sie gehörten einem Konsortium aus sage und schreibe 80 Staaten.[2]

Kurt Debus, Raumfahrt-Legende und Aushängeschild des ersten echten deutschen NewSpace-Unternehmens.
Screenshot aus OTRAG-Prospekt: Kurt Debus, Raumfahrt-Legende und Aushängeschild des ersten echten deutschen NewSpace-Unternehmens.

In diesem schwierigen Umfeld benötigt man aber nicht nur gute Ingenieure und sehr viel Geld, sondern auch gute Kontakte, um eine Rakete zu bauen. Das war offenbar kein Problem für Kayser, denn als Aufsichtsratschef konnte er Kurt Debus gewinnen. Der war erst Betriebsleiter des V2-Prüfstands in Peenemünde gewesen (hier ein interessanter Beitrag zum Testgelände Peenemünde: „Zeigen, was Krieg ist„), dann zwölf Jahre lang Leiter des NASA Kennedy Space Center, wo er erfolgreich Missionen wie Mercury und Apollo ins All schoss. Neben Wernher von Braun also ein echtes deutsches Schwergewicht der Branche, auch wenn Debus mittlerweile die amerikanische Staatsbürgerschaft angenommen hatte – und trotz dessen Karriere unter den Nationalsozialisten. Von Braun sagte mal über Debus: „Wir bauen die Raketen und Debus kümmert sich drum, dass sie tun, was sie tun sollen.“[3]

Als Aufsichtsratschef hatte Debus weniger die Aufgabe, die OTRAG zu kontrollieren, sondern vielmehr als glaubwürdiger und honoriger Elder Spaceman Investoren anzulocken. Denn der Geniestreich von Kayser und seinen zweifellos gewieften Mitarbeitern war die Finanzierung seines Raketen-Unternehmens. Die OTRAG selbst war eine Aktiengesellschaft, bei der Kayser den überwiegenden Teil der Aktien hielt, finanzierte sich aber durch eine Stille Gesellschaft, in welche Investoren ihr Geld einzahlten. Da absehbar war, dass das Unternehmen auf Jahre hinaus riesige Verluste anhäufen würde, konnten sie diese steuerlich absetzen. Für Kayser sehr praktisch: Da es sich um Stille Gesellschafter handelte, hatten diese bei der Unternehmensführung nicht das geringste zu melden.

Kayser konnte also schalten und walten, wie es ihm beliebte. Das ist der entscheidende Unterschied zur Investitionskultur, wie sie sich besonders im Silicon Valley und damit auch bei NewSpace-Start-ups herausgebildet hat. Hier sichern sich die Investoren einen Anteil an jungen Unternehmen und üben damit einen sehr direkten Einfluss auf seine Entwicklung aus. Das ist nicht selten von Vorteil für die Gründer, die häufig vergleichsweise unerfahren in wirtschaftlichen Dingen sind. Vor allem üben sie eine Kontroll-Funktion aus und sorgen dafür, dass das investierte Geld nicht in die falschen Kanäle gerät.

Mit Steuerspartricks ins All

Eben nicht so bei der OTRAG: Das erste gewaltige Minus in der Bilanz – allerdings ganz im Sinne der Gesellschafter – erzeugte Kayser selbst. Er verkaufte der OTRAG seine eigenen Erfindungen und Patente für insgesamt 150 Millionen Mark und ließ sich 25 Millionen davon über vier Jahre hinweg auszahlen. Den Rest gab er als Darlehen an die OTRAG zurück. Der Clou: Die Investoren konnten bis zu 275 Prozent der Verluste ihrer Investition steuerlich abschreiben. Sie hatten also gar nichts dagegen, dass die OTRAG keinen Pfennig verdiente, sondern Schulden und Verluste machte.

Lage des OTRAG-Testgeländes in Zaire
Screenshot aus OTRAG-Prospekt: Die Treibstoffröhren der OTRAG-Rakete werden ins Transportflugzeug nach Zaire verladen. Unteres Bild: Karte des 100.000 Quadratkilometer großen Testgelände, das Zaires Präsident und Diktator der OTRAG verpachtet hat

Der Leiter des zuständigen Finanzamtes hatte der OTRAG solche Verlustvorträge in einer einsamen Entscheidung offiziell zugestanden – bis er deswegen seine Stelle verlor und das hessische Finanzministerium die Entscheidung revidierte. Es waren nicht zuletzt solche Wendungen, die der OTRAG Zeit ihres Bestehens den Ruf einbrachte, mit halbseidenen Methoden zu arbeiten. Allein der Spiegel schrieb mehrere große Aufsätze über die OTRAG, und in keinem davon erscheinen Kayser und die OTRAG in besonders günstigem Licht. Kein Wunder, jede Recherche brachte neue, unglaubliche Entwicklungen ans Licht – nur nicht, was die Rakete selbst betraf.

Nachdem die OTRAG ihre Raketen in Europa zwar bauen, aber nicht starten durfte, musste ein Startplatz her. Kayser wollte verständlicherweise so nah wie möglich an den Äquator, aber nicht zu weit von Deutschland entfernt sein, um die Transportkosten einzugrenzen. Daher verhandelte er neben Brasilien und Nauru vor allem mit den afrikanischen Ländern Zaire und Uganda.  Auch hier halfen gute Kontakte. Ein Spezl von Kayser kannte Mobutu, den Herrscher der Demokratischen Republik Kongo, damals Zaire. Offiziell war Mobutu Präsident, in Wahrheit war er aber seit 10 Jahren ein grausamer Diktator, der seine Gegner foltern und umbringen ließ.[4]

Deal mit dem „Hahn, der keine Henne unbestiegen lässt“

Mobutu hatte mit den USA aber einen wichtigen Verbündeten, weil er sich als Anti-Kommunist gab. Das stabilisierte sein Regime während des kalten Krieges und machte ihn international so hoffähig, dass er sogar den Boxkampf zwischen Muhammed Ali und George Foreman ausrichten konnte („rumble in the jungle“). Als die OTRAG 1975 anklopfte, ließ sich Mobutu, der zudem Titel führte wie „der Hahn, der keine Henne unbestiegen lässt“, nicht zweimal bitten. Wie der Diktator auf die Aussicht seines Landes, Startplatz für Raketen zu werden, schildert einem SPIEGEL-Bericht aus dem Jahr 1978 (daher die alte Zeichensetzung): „Schon nach einer halben Stunde“ (Kayser) hatte Mobutu Feuer gefangen. Ihn berauschte die verlockende Aussicht, als erster afrikanischer Staatschef sich mit einem Aufklärungssatelliten im All brüsten zu können; er schwärmte vor Kayser und Weymar davon, in seinem Reich das „afrikanische Kap Kennedy“ zu besitzen. Kayser: „Mobutu war der erste Politiker, der die kommerzielle Bedeutung des Projekts klar erkannte. Er wußte, das bringt Prestige und vielleicht Geld.“

Luftbildaufnahmen des OTRAG-Startgeländes in Zaire
Screenshot aus OTRAG-Prospekt: Luftbildaufnahmen des OTRAGF-Startgeländes in Zaire

Kayser wollte nämlich nicht nur jährlich 50 Millionen Mark Pacht für das 100.000 Quadratkilometer (!) große Startgebiet zahlen, sobald die ersten kommerziellen Starts erfolgten, sondern versprach dem Diktator für Zaire einen eigenen Aufklärungssatelliten ins All zu transportieren. Nach noch nicht einmal zwei Wochen war der Deal perfekt und die OTRAG begann mit zwei abenteuerlich aussehenden Flugzeugen Material nach Afrika zu fliegen (mit zwei gebrauchten Argosy-Transport-Flugzeugen). Auf einem im Nirgendwo errichteten Startplatz, auf einem Felsvorsprung eines Hochplateaus, startete am 17. Mai 1977 auf 8° Süd und 28° 30’ Ost die erste kommerzielle deutsche Rakete bis auf 20 Kilometer Höhe – und löste eine globale Reaktion aus. Nicht nur der marxistische Ministerpräsident Angolas Lopo Fortunato do Nascimento beschwerte sich, auch die Sowjetunion bezog in einem Artikel in der Parteizeitung Prawda Stellung, in dem sie den Start als einen Akt von Neokolonialismus beklagte. So fern lag der Gedanke gar nicht. Das Gebiet, das die OTRAG von Mobutu gepachtet hatte, war fast so groß wie die damalige DDR und sie hatte darin Rechte, wie einst die weißen Kolonialherren, inklusive der Umsiedelung von Einwohnern (was offenbar aber nie stattfand) und gerichtlicher Immunität. Kein Wunder, denn laut Spiegel war der Pachtvertrag eine „exakte Kopie jenes Vertrages, mit dem die USA im Jahre 1903 von Panama die Kanalzone annektierten“. Was Kayser und Mobutu vorhatten, war außerdem bekannt, da der Vertrag in Bonn aus der Botschaft von Zaire gestohlen und anschließend veröffentlicht worden war.

Beschwerdeanrufe vom sowjetischen Parteichef

Ein Aufklärungssatellit in der Hand eines Despoten, eines Verbündeten der USA dazu? Das konnten die Supermacht Sowjetunion und ihre afrikanischen Verbündeten kaum akzeptieren. Das ist insofern eine Parallele zu heute, als die verbliebene Supermacht USA es privaten Raumfahrt-Unternehmen auch jetzt noch nicht erlaubt, Technik in nicht genehme Staaten zu exportieren. Auch die NewSpace genannte kommerzielle Raumfahrt im 21. Jahrhundert muss politische Rahmenbedingungen akzeptieren.

Szenen vom Testgelände in Zaire
Screenshot aus OTRAG-Prospekt: Szenen vom Testgelände in Zaire. Oben: das Transportflugzeug, mit dem die OTRAG Material von München nach Zaire flog.
Mittle: ein Vierer-Pack der Treibstoffröhren.
Unten: Hütten der einheimischen OTRAG-Mitarbeiter

Nach zwei erfolgreichen Starts und einem Fehlschlag war im April 1979 in Zaire Schluss. Der politische Druck auf Mobutu war zu groß geworden. Nicht nur mussten sich Bundeskanzler Helmut Schmidt und sein Außenminister Hans-Dietrich Genscher auf der ganzen Welt Klagen über die deutschen Raketenbauer in Afrika anhören, selbst der sowjetische Staatschef Leonid Iljitsch Breschnew hatte bei Schmidt persönlich interveniert. Der war bald so wütend, dass er wahlweise die OTRAG zum Teufel wünschte oder Kayser „den Hals umdrehen könnte“. Daher bedrängte die Bunderegierung Mobutu so lange – offenbar nach dem Prinzip Zuckerbrot und Peitsche, bis er nachgab und den Pachtvertrag kündigte (Kayser: „Es war ihm äußerst peinlich“). Offiziell wurde das zwar nie als Grund angegeben. Da seine Armee im selben Jahr noch Fahrzeuge und Militär-Elektronik bekam, liegt die Vermutung nahe, dass es sich dabei durchaus um eine Belohnung gehandelt hat.

Fragte man Kayser selbst, gab er sich überzeugt, dass er es Schmidt zu verdanken hatte, dass er Zaire verlassen musste. Er sah als Ursache der Schmidt’schen Gegnerschaft nicht nur sein weltpolitisches Zündelpotenzial, sondern sogar eine politische Gegnerschaft. „Freilich kann man sich im Nachhinein überlegen, ob nicht diese oder jene Weichenstellung anders besser gewesen wäre“, so Kayser. „Zum Beispiel war die Nähe zu Rainer Barzel (damals zeitweise CDU-Vorsitzender und Oppositionsführer im deutschen Bundestag, Anm. des Autors) sicherlich ein Grund, warum uns Schmidt so hasste. Wie anders wäre die deutsche Politik für OTRAG gelaufen, wenn Brandt nicht von Schmidt, sondern von Barzel abgelöst worden wäre!“

Stattdessen erließ die Bundesrepublik auch noch strengere Exportgesetze für Raketenteile, um zu verhindern, dass Kayser in Deutschland baut und in Afrika startet. Schwierige Zeiten also für die Rakete, die aus technischer Sicht durchaus erfolgversprechende Fortschritte gemacht hatte. Immerhin hatten Kayser und seine etwa 40 Ingenieure mehrmals richtige Hardware in die Luft gebracht, eine Rakete aus vier Rohren mit vier Triebwerken. Das gelingt vielen gegenwärtigen Raketen-Start-ups unter heute deutlich besseren Bedingungen nicht. Die Rakete stieg bei den Starts zwar nicht höher als 30 Kilometer auf, aber das sollte sie auch nicht und ihre Tanks waren daher auch nur teilweise befüllt.

Attentate auf deutschen Raketenbauer

Im Nachhinein muss sich Kayser die Frage gefallen lassen, was ihn geritten hat, in diesem Reich der Hölle Raketen zu starten. Denn der Gedanke lag auch damals schon nahe, dass ein Mann wie Mobutu sicher keine Satelliten für die Wettervorhersage im Kopf hatte.

Testgelände der OTRAG in Zaire
Screenshot aus OTRAG-Prospekt: Testgelände der OTRAG in Zaire

Die gefährliche Kombination zwischen Gewaltherrscher und Raketentechnik sahen natürlich auch alle Nachbarländer, die Supermächte und alle, die ein Interesse daran hatten, im Kalten Krieg die jeweils andere Seite an den Pranger zu stellen, in diesem Fall die Bundesrepublik, aus der die OTRAG und Kayser ja kamen. Raketen zu bauen, vor allem für den falschen Auftraggeber, konnte zudem ernste Konsequenzen haben, diese Erfahrung musste der Kayser-Freund, der Ingenieur Wolfgang Pilz mach. Als Pilz mit Erfolg begann, in den 1960er für den ägyptischen Präsidenten Nasser eine Rakete zu entwickeln, schickte der israelische Geheimdienst Mossad ihm mehrere Paketbomben. Die Explosionen verfehlten zwar Pilz selbst, töteten aber mehrere Mitarbeiter und ließen seine Sekretärin erblinden.

„Mein Wunsch Trägerraketen für den kommerziellen Satellitentransport zu entwickeln, war damals stärker als die Angst vor Attentaten“, sagt Kayser dazu. „Mit viel Glück habe ich vier Mordversuche überlebt.“ Kayser und seine Mitarbeiter blieben von diesem Schicksal also verschont. Aber die politischen Probleme wurden mit der nächsten Standortwahl nicht weniger, im Gegenteil.

Neustart mit dem Beduinen-Diktator

Nach dem Rausschmiss aus Mobutus Zaire stand der nächste ambitionierte Diktator in der Tür: Muammar al-Gaddafi. Hinsichtlich seiner Grausamkeit war der keinen Deut angenehmer als Mobutu, ihm Vergleich zu diesem allerdings ein noch größerer Außenseiter der Weltgemeinschaft, weil unter notorischem Terrorismus-Verdacht.

Auf die Frage, warum er mit seiner Idee nicht einfach ins wichtigste Land der Raumfahrt, die USA, ging, sagt Kayser: „Nachdem ich Wernher von Braun und Kurt Debus in den OTRAG Aufsichtsrat eingestellt hatte, geschah dies mit dem Gedanken, Produktion und Start in die USA zu verlegen. Aber alle Bemühungen waren vergebens. Um das Spaceshuttle zu fördern, hatte US-Präsident Richard Nixon eine Order unterschrieben, die alle Nicht-Shuttle-Transporte verbot. Nach der Challenger-Katastrophe wurde diese Order dann wieder aufgehoben. Aber für uns war das zu spät, weil wir inzwischen unsere Flugqualifikation in Libyen machten –  weswegen übrigens Debus sein Amt niederlegte.“ Das ist richtig, sogar die US-amerikanischen Hersteller von großen Raketen motteten ihre Fertigungsanlagen ein und entwickelten ihre Träger-Systeme Atlas und Delta erst wieder weiter, als Ronald Reagan das Spaceshuttle aus dem kommerziellen Transportgeschäft verbannte.

Kayser hatte zeitweise auch ein Schiff als Startplatz sondiert. Das hätte den Vorteil gehabt, dass er damit unmittelbar zum Äquator hätte fahren können, um dann dort dann beim Start die der Erdrotation auszunutzen, die Raketen einen guten Teil an Treibstoff sparen kann. „Die Frage kann gestellt werden, ob ein Schiff als Startbasis politisch weniger gefährlich gewesen wäre“, merkte Kayser später selbstkritisch an. „Ich hatte schon einen Vorvertrag in Norwegen über einen riesigen Öltanker geschlossen, als Mobutu über die CSU von der OTRAG erfuhr und uns mit offenen Armen nach Zaire einlud. Daher und wegen der geringeren Investition haben wir Afrika vorgezogen. Ein weiteres Argument kam von der (Versicherungsgesellschaft) Lloyds in London. Denn nach dem UN-Weltraumvertrag muss eine Privatfirma für Weltraumfahrt die Flagge eines Landes führen und eine Versicherung über eine Dritthaftung abschließen. Die Versicherungsleute meinten, auf hoher See könnten wir im schlimmsten Fall mit einer herabfallenden Stufe ein anderes Schiff mit einer Milliarde Dollar versenken. In Afrika würde aber ein Schaden von 200.000 Dollar anfallen, falls wir einen dortigen Einwohner tödlich trafen.“

Das mag grausig klingen, ist aber für jeden Anbieter von Raketenstarts ein gewöhnliches Kalkül. Die USA übernehmen für ihre privaten Startanbieter aus diesem Grund sogar einen Teil der Haftung, um ihnen ihr Geschäft überhaupt erst zu ermöglichen.

Libyens starker Mann und selbst ernannter Revolutionsführer bot der OTRAG einen Startplatz nahe einer Oase 600 Kilometer südlich von Tripolis an und Kayser nahm an. Erstaunlicherweise gelang es Kayser, sämtliches Material aus Zaire nach Libyen zu schaffen, angesichts der Paria-artigen Lage der OTRAG und der prekären politischen Verhältnisse ein kleines Wunder. Aus heutiger Sicht ist die Wahl Libyens als Startplatz kaum nachvollziehbar. Der Finsterling Gaddafi hatte sich so viele Gegner geschaffen, dass sich auch seine Geschäftspartner unweigerlich in seinen dunklen Bannkreis geraten mussten. Doch aus Kaysers Sicht war Gaddafi aus diesem Grund wiederum nicht erpressbar und Kayser wollte nicht erneut des Landes verwiesen werden.

Sogar Wim Thoelke macht in Raketen

Es dauerte keine zwei Jahre, dann konnte die OTRAG am 1. März 1981 erneut eine Rakete starten. Sie dreht sich zwar nach 21 Sekunden, Kayser wertete das aber zumindest als Teilerfolg. Bis dahin konnte die OTRAG von etwa 1500 stillen Gesellschaftern rund 170 Millionen Mark einsammeln, darunter sogar prominente Namen wie der damalige Quizmaster Wim Thoelke.[5] Heute wäre das etwa die Größenordnung einer anständigen Runde B auf der klassischen Risikokapital-Entwicklungsleiste. In den Medien kursierte der Begriff Zahnärzte-Rakete, weil vor allem wohlhabende Selbstständige die Verluste der OTRAG gut abschreiben konnten.

Trotzdem geriet die Lage für Kayser allmählich außer Kontrolle, denn Gaddafi und seine Generäle ließ keinen Zweifel daran, dass er die Rakete für sich selbst und militärische Zwecke nutzen wollten. Das versetzte die libyschen Nachbarn in Aufregung, vor allem Ägypten und Marokko. Dieses Mal setzten die eigenen Gesellschafter Kayser derart unter Druck, dass er seine Aktienmehrheit von 74 Prozent an einen Treuhänder abgeben musste und fortan seine bisherigen Vorstände das Ruder übernahmen. Kayser war entmachtet. Es kam aber noch schlimmer für Kayser. Zwar absolvierte die OTRAG in Libyen 14 Raketentests, doch anstatt wie angekündigt immer größere Raketen-Module zu starten, wurden diese immer kleiner, um die Begehrlichkeiten der libyschen Militärs nicht noch weiter anzuheizen.  Zuletzt starteten die Wüsten-Ingenieure nur noch mit einem Triebwerk, anstatt mit vier wie zu Anfang.[6]

Der Abschusswinkel macht den Unterschied

Trotzdem landete die OTRAG in der internationalen Presse, sogar die New York Times meldete, die Deutschen würden Mittelstreckenraketen entwickeln. Außerdem ständen die libyschen Offiziellen, die mit den Deutschen zusammenarbeiteten, mit dem libyschen Atomprogramm in Verbindung.[7] Die OTRAG dementierte zwar, aber keiner glaubte ihr mehr – nicht verwunderlich bei ihrer Diktatoren-Vita. Man kann sich leicht ausmalen, wie Gaddafi und seine Generäle Kriegsrat sich ausrechneten, welche ihrer Gegner sie mit den Raketen der nützlichen Idioten aus Deutschland sie auslöschen würden können. Ende 1982 war dann für die OTRAG auch in Libyen Schluss. Offenbar ging es dem libyschen Militär nicht schnell genug voran. Deswegen konfiszierten die Libyer einfach die Startanlage und alles Material, was dazugehörte – unter anderem 400 Raketenrohre. Die meisten Ingenieure fuhren nach Hause. Es gelang Gaddafis Militärs aber etwa 20 Techniker anzuheuern und die verbliebenen Rohre abzufeuern. Ohne Kapitän und Mannschaft trieb das Schiff aber offenbar mehr oder weniger ziellos dahin, denn von wirklichen Erfolgen des libyschen Raketenprogramms hörte man nicht mehr viel. Allerdings schossen die Techniker die Raketen unter libyscher Führung in einem Winkel von etwa 70 Grad ab, also wie Artillerie-Geschosse. Also doch ….

Gaddafi, der gute Diktator?

Die an Aufregern und Unglaublichkeiten nicht gerade arme Geschichte wird noch sonderlicher. Jeder normale Mensch hätte nach einem so feindlichen Akt, dazu noch von einem totalitären libyschen Regime, so schnell wie möglich das Weite gesucht, man weiß ja nicht, was als nächsten kommt. Nicht so Lutz Kayser. Er blieb weitere zehn Jahre in Libyen und wurde dort sogar zum Professor ernannt. Ein Widerspruch der sich nicht wirklich auflösen lässt. Hier die Erklärung von Lutz Kayser selbst, der über Gaddafi bis zum Schluss kein böses Wort verlieren mochte – trotz zahlreicher Berichte über dessen Verstrickung in Terror und Folter.

„Ich bin nicht (direkt) in Libyen geblieben, denn konnte nach dem Februar 1983 nicht mehr nach Libyen einreisen, da mir ein Visum verweigert wurde. Erst als es mir gelang, Gaddafi durch seinen österreichischen Rechtsanwalt auf den Diebstahl aufmerksam zu machen, konnte ich auf persönliche Einladung Gaddafis wieder einreisen. Das war im November 1986. Nach Gesprächen mit Gaddafi, der erst zu diesem Zeitpunkt mitbekam, dass die gesamte OTRAG-Anlage vom Militär nach Tripoli verschoben worden war, wurden Untersuchungen eingeleitet. Da es sich jedoch um den Schwager Gaddafis handelte, dessen Familie nicht schüchtern war in der Durchsetzung ihrer Ziele, verlief jede Untersuchung im Sande. (… ) Während der Untersuchungen bot Gaddafi mir an, eine Physik-Professur an der Universität in Tripoli anzunehmen. Er war an der Ausnutzung von Sonnen und Windenergie interessiert. Da es sich hier um ein wissenschaftliches Gebiet handelte, woran ich gleichfalls sehr interessiert war, akzeptierte ich. Ich übernahm die Direktion des “Institute of Technical Education”. Die Professur schloss ein Haus ein und da Tripoli eine schöne und sichere Stadt am Meer war, ließ es sich da gut leben. Gleichfalls war mein Gehalt gut und der Universitätsbereich war völlig getrennt vom korrupten Militär. (…) Meine libyschen Studenten waren intelligent und wissbegierig nach moderner Physik und die Lehrarbeit war befriedigend. Ich blieb also nicht in Libyen, sondern kam auf Gaddafis Einladung im November 1986 nach Libyen zurück und wartete da vergeblich auf die Rückgabe der OTRAG-Anlagen im Werte von einigen zehn Millionen Dollar bis zum November 2004.“

„Wrong time, wrong place“

NewSpace hat also in Deutschland eine große Vorgeschichte, die spektakulärer nicht sein könnte, und bedauerlicherweise ein unglückliche und ganz und gar falsche Wendung nahm. Wer die Geschichte vom Raketen-Konstrukteur Lutz Kayser und der sogenannten ORAG-Rakete liest, dem wird vor allem klar, wie sich die Zeiten der privaten und kommerziellen Raumfahrt gewandelt haben, vor allem durch den Wechsel der politischen Großwetterlage. „Es spielte auch eine Rolle, dass wir in den achtziger Jahren noch nicht wiedervereinigt waren. Unter Gorbatschow, Kohl und Reagan wäre das nicht so schlecht gelaufen“, resümierte Kayser. „Wrong time, wrong place sagen die Amerikaner.“

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Während heute zahlreiche westliche Regierungen die privatfinanzierte Raumfahrt gar nicht genug fördern können oder wenigsten nicht mehr verhindern, musste Kayser immer wieder Knüppel aus dem Weg räumen, die ihm von höchsten Stellen aus Staat und Politik vor die Füße geworfen wurden, auch wenn er selbst nicht immer ganz unschuldig an seinen zahlreichen Miseren war.

Die sich selbst tragende Rakete

Dazu kam: Auch seine Technologie war nicht unumstritten. Kayser berief sich zwar häufig auf eine Studie der Deutschen Forschungs- und Versuchsanstalt für Luft- und Raumfahrt von 1975, nach der das technische Prinzip seiner Rakete „grundsätzlich durchführbar“ sei.[8] Doch das ist nicht der Knackpunkt. Der Spiegel zitierte 1978 dazu den Berliner Professor für Raumfahrttechnik Hans-Heinz Koelle. „Im Prinzip kann man mit Hilfe von Raketen eigentlich alles zum Fliegen bringen, auch Scheunentore.“[9]

Am Ende ist es jedoch das Ziel, eine Nutzlast in den Orbit zu transportieren, nur dafür zahlen die Satelliten-Betreiber. Am besten preiswert, oder zumindest für weniger als die herkömmlichen Anbieter. Kayser musste sich in diesem Zusammenhang den Vorwurf gefallen lassen, seine Technik wäre im wahrsten Sinne des Wortes eine Nullnummer. Seine Rakete wäre zwar abgehoben, hätte aber rechnerisch lediglich die Kraft gehabt, mehr oder weniger das eigene Gewicht in den Orbit zu befördern – nicht aber eine Nutzlast.

Harry Ruppe, damals Raumfahrt-Professor an der Technischen Universität München, rechnete 1975 vielmehr aus, dass Kaysers Rakete viel weniger befördern könnte, als die OTRAG angegeben hatte, nämliche nur 3,6 statt zehn Tonnen. Das wollte Kayser nicht gelten lassen. Noch Jahrzehnte später bezichtigte er den renommierten Raumfahrt-Ingenieur Ruppe, der zuvor im Team von Wernher von Braun und danach als Programmleiter für die Mond- und Marssonden der NASA tätig gewesen war, nicht korrekt rechnen zu können. „Bitte verstehen Sie, dass ich den Unfug, den Harry Ruppe im bezahlten Auftrag von Ludwig Boelkow (Gründer des Flugzeugherstellers Bölkow GmbH, später in MBB, DASA, EADS und schließlich Airbus aufgegangen, Anm. des Autors) absichtlich falsch dargestellt hat, nicht ausbreiten will. Es soll genügen, dass der Mann nicht einmal die Wandstärke eines zylindrischen Tanks richtig berechnen konnte.“

Es ist kaum anzunehmen, dass dieses harsche Urteil der Wahrheit entsprach. Es ist sicher der Tatsache geschuldet, dass Kayser in Folge der negativen Beurteilungen seitens der Fachwelt nicht nur mehr keine Gelder mehr aus staatlichen Töpfe erhielt, es blieb ihm auch die Anerkennung des akademischen Establishments in Deutschland versagt. Kayser, der mit einem nicht unerheblichen Ego ausgestattet war, musste das als nicht annehmbare Demütigung empfinden. Der nie aufgelöste Streitpunkt: Kayser ging davon aus, dass die vielen, eng nebeneinanderliegenden Triebwerke einen einzigen, gebündelten Abgasstrahl erzeugen würde, der durch einen Staudruck einen höheren Gesamtschub zur Folge hätte als die Summe der einzelnen Triebwerke. Einen Beweis blieb Kayser schuldig und auch bei Elon Musks Falcon 9, die ja immerhin über neun Triebwerke verfügt, ließ sich dieser Effekt bisher nicht beobachten.

Kayser musste zudem mit einer äußerst kritischen Presse leben. Allen voran der Spiegel kommentierte in einer Reihe von Artikeln mit hämischen Unterton die für Außenstehende nicht gerade beeindruckenden Startversuche und hinterfragte argwöhnisch sowohl die Finanzierung über die steuerlichen Abschreibungen seiner Gesellschafter sowie die fragwürdigen Startplätze.

Startbereit bis zum Schluss

Lutz Kayser lebte zuletzt mit seiner Frau Susanne auf einem kleinen tropischen Eiland der Marshallinseln mitten in der Südsee, das die beiden für 100 Jahre gepachtet haben. So abgelegen der Flecken und abgehalftert die OTRAG, Kayser gab nie auf. Mit einem neuen Unternehmen, das sich „Von Braun, Debus und Kayser“ nennt, versuchte er bis zu seinem Ende, seine Jahrzehnte lang entwickelte Technik zu verkaufen.

Der unternehmerische und technische Erfolg mag Lutz Kayser zu Lebzeiten verwehrt geblieben sein. Doch womöglich erleben seine Ideen im kalifornischen Nirgendwo in naher Zukunft eine Renaissance. Vor den Toren von Los Angeles arbeitet das kleine Raketenbau-Unternehmen Interorbital Systems in der Wüstenstadt Mojave an einer Rakete, deren Konzept und Technik auf Kaysers Arbeiten beruhen. Interorbital plant, mit seiner Rakete Neptune den Rover des Google Lunar X-Prize-Teilnehmers Synergy Moon zum Mond zu schießen. Es wäre wahrhaftig ein Nachlass für die Ewigkeit.

Quellen:

Korrespondenz mit Lutz Kayser und Susanne Kayser-Schillegger

[1] spiegel.de/spiegel/print/d-40607306.html

[2] Werner Büdeler. Raumfahrt in Deutschland. Econ Verlag 1976. Seit 64

[3] nytimes.com/1983/10/11/obituaries/dr-kurt-heinrich-debus-is-dead-helped-develop-modern-rocketry.html „ “We develop the rockets, and it’s up to Debus to see they do what they’re supposed to do.‘

[4] de.wikipedia.org/wiki/Mobutu_Sese_Seko

[5] spiegel.de/spiegel/print/d-14342940.html

[6] bernd-leitenberger.de/otrag1.shtml

[7] nytimes.com/1981/09/12/world/us-uneasy-over-military-potential-of-commercially-produced-rockets.html

[8] spiegel.de/spiegel/print/d­40607304.html 5/1 2

[9] spiegel.de/spiegel/print/d-40607306.html