Raketen aus dem 3D-Drucker, Milliarden-Investitionen aus dem Silicon Valley und Träume von künstlicher Intelligenz, die mit Lichtgeschwindigkeit durchs All reist: Die fortgeschrittene Digitalisierung sorgt für einen Boom in der Raumfahrt, dessen Ende noch nicht abzusehen ist.
Ein Bild sagt mehr als tausend Worte, heißt es. Diese strapazierte Redensart bekommt derzeit eine völlig neue Bedeutung. Denn die Qualität der Interpretation eines Bildes war bisher vor allem auf die neuronale Vernetzung seines Betrachters angewiesen. Doch wie es aussieht, wird die Interpretation nicht mehr lange das Privileg evolutionär entwickelter Intelligenzen bleiben. Schon heute kann intelligente Software Bilder in einem Maß auswerten, das vor wenigen Jahren noch undenkbar war. Das Zusammenspiel von Digitalisierung und intelligenten Algorithmen hat – neben weiteren Faktoren – in der Raumfahrt für eine Revolution gesorgt.
Das Phänomen wird häufig als Cube-Sat-Revolution bezeichnet, da ihr Schauplatz vor allem der erdnahe Orbit und ihre technischen Protagonisten häufig Cube-Satelliten sind, kleine und preiswerte Satelliten. Es ist aber nur Teil einer allgemeinen Entwicklung in der Raumfahrt, die sich in den vergangenen Jahren stark beschleunigt hat und die eine herausragende Ursache hat: die fortschreitende Digitalisierung.
Elektronische Hardware ist heute deutlich leistungsfähiger, robuster und preiswerter als zu Beginn der Digitalisierung. Hinzu kommen moderne Fertigungsverfahren wie der 3D-Druck (Fachbegriff: Additive Manufacturing, AM), mit denen sich ganze Komponenten drucken lassen. Außerdem wurde in den vergangenen Jahrzehnten ein Pool von Software für die Entwicklung und Steuerung von Raumfahrzeugen etabliert, auf den viele private Unternehmen günstig zurückgreifen können.
Demokratisierung der Raumfahrt
Diese Entwicklung lässt die Preise für Satelliten sowie ihren Transport sinken. Zwar lässt sich an der reinen Zahl an Raketenstarts noch kein Boom erkennen, aber andere Indikatoren wie steigende Investitionen und zahlreiche neue Unternehmen deuten darauf hin, dass wir kurz davor stehen. Das Besondere daran ist, dass es sich nicht um eine staatliche oder halbstaatliche Raumfahrt handelt, sondern um eine kommerzielle mit privaten Unternehmern.
Bisher waren die Entwicklung und der Bau von Satelliten und Raketen ausschließlich großen Raumfahrtunternehmen wie Boeing und Airbus vorbehalten, finanziert mit den Milliardenbudgets staatlicher Raumfahrtagenturen. Das hat sich in den vergangenen 15 Jahren drastisch geändert, denn die Raumfahrt ist nicht nur mehr eine Angelegenheit dieser alten Großkonzerne der Branche, Oldspace genannt, sondern auch das Feld agiler Digital-Startups, die sich Newspace nennen. Mit Hilfe digitaler Technologien ist es diesen kleinen Unternehmen möglich, konkurrenzfähige Technologien zu entwickeln und auf eigene Faust Raumfahrt zu betreiben. In der Branche spricht man hier von der Demokratisierung des Weltraums, Raumfahrt für jedermann.
„Die Kosten eines Satelliten sind die eines High-End-Servers“
Diese umwälzenden Veränderungen finden nicht weit über unseren Köpfen statt. Über 1.000 der gut 1.700 aktiven Satelliten (Stand August 2017) sind laut der Datenbasis der Union of Concerned Scientists seit Anfang 2011 gestartet worden, fast 800 davon in die erdnahe Umlaufbahn, häufig auch LEO genannt, für Low Earth Orbit. Das ist vor allem deswegen bemerkenswert, weil die Satelliten dort häufig für eine Lebensdauer von nur etwa drei bis fünf Jahren ausgelegt sind. Es ist nicht nur die Qualität ihrer Bauteile, die ihnen den Garaus macht. Die Restatmosphäre im LEO bremst sie allmählich ab und sie verlieren nach und nach an Höhe. Da sie so klein sind und ihr individueller Nutzwert relativ gering, fehlt ihnen in der Regel ein Triebwerk, um sie beispielsweise wie die ISS per Sojus-Raumschiff regelmäßig anzuheben. Daher stürzen sie nach ihrer geplanten Lebensdauer – nicht ganz ungewollt – ab.
Im Gegensatz zu langlebigen, großen und daher sehr teuren Satelliten weit draußen im geostationären Orbit sind viele der Satelliten im LEO klein und vergleichsweise billig. Von der technischen Seite aus gesehen ist die Hauptursache für die rasche Vermehrung von Klein- und Kleinstsatelliten sicher der Einsatz von COTS (Components off-the-shelf), Hardware aus industrieller Serienproduktion. Solche Bauteile sind naturgemäß billiger als für Raumfahrt qualifizierte Hardware. Die ist es unter anderem, welche der Raumfahrt den Ruf einer überteuren Branche eingehandelt hat.
„Es stimmt nicht, dass Raumfahrtunternehmen viel mehr Geld benötigen als andere Unternehmen. Das ist eine dieser althergebrachten Denkweisen“, sagt Peter Platzer. Der Österreicher ist CEO und Mitgründer von Spire, einem Unternehmen aus San Francisco, das eine Flotte von Cube-Satelliten im LEO betreibt. „Die Kosten eines Satelliten sind die eines High-End-Servers. Die Mikroelektronik, die wir hinaufschicken, sind Bauteile, die man in Computern findet oder in Handys. Hier auf der Erde werden Milliarden in kleinere und leichtere sowie energieeffizientere und leistungsfähigere Mikroelektronik investiert. Das sind die gleichen Kriterien, die wir im Weltraum brauchen.“
COTS eröffnen den Ingenieuren daher ungeahnte Möglichkeiten. „Wir haben den Onboard-Computer (der Spire-Satelliten) Strahlung ausgesetzt, und nach zehn Jahren Weltraumstrahlung hatte er immer noch funktioniert“, sagt Platzer. „Natürlich hängt das vom Orbit ab. Im niedrigen Erdorbit, 500 bis 600 Kilometer hoch, herrscht ein anderes Strahlungsumfeld als im geostationären Orbit. Da wollen wir aber nicht hin.“
3D-Druck macht Raumfahrt leichter und billiger

schwebt durch den Ausguck der ISS. (Quelle: NASA)
In ähnlicher Weise profitiert die Raumfahrt im Bereich Raumtransport von digitaler Technologie. Der 3D-Druck mag nicht für die Raumfahrt entwickelt worden sein, doch er ist dabei, die Herstellung von Raketenbauteilen zu revolutionieren. Rocket Lab, jüngstes Mitglied in der Familie der erfolgreichen privaten Raketenstart-Unternehmen, druckt beispielsweise Teile der Brennkammer, Düsen und Ventile seines Rutherford-Triebwerks. Was bisher die mechanische Kompetenz einer gut bestückten Feinwerkstatt erforderte, lässt sich nun am Rechner entwerfen und über Nacht drucken. Allerdings sollte niemand den Fehler begehen, zu denken, die Bauteile kämen wie Kai aus der Kiste einsatzfähig aus dem Drucker. Ein erheblicher Teil ihrer Bearbeitung kommt erst noch – die Loslösung von der Trägerplatte, die Oberflächenbearbeitung und vor allem die Qualifizierung.
Hochwertige industrielle Drucker kosten zwar über eine Million Euro, sind schwer zu bedienen und arbeiten vergleichsweise langsam. Ihre Erzeugnisse haben aber einen für die Raumfahrt entscheidenden Vorteil: Die gedruckten Teile sind leichter als die konventionellen. Die Struktur des Mondrovers des Berliner Raumfahrt-Startups PTScientists kommt zu 80 Prozent aus dem Aluminiumdrucker. Das hat den Vorteil, dass sie bei gleicher Stabilität weniger wiegt. „Es war vor allem der 3D-Druck, der es uns ermöglicht hat, zehn Kilogramm von unserem Rover runterzubekommen“, erklärt Karsten Becker von den PTScientists. „Die Räder sind extrem dünnwandig, nur einen Millimeter stark und extrem stabil. Das hätten wir mit traditionellen Fertigungsmethoden auf gar keinen Fall hinbekommen.“ Für die Mondspediteure zählt jedes Gramm: Der Preis, ein Kilogramm Nutzlast auf den Mond zu transportieren, beträgt laut Becker etwa eine Million Euro.
Dabei ist es aber nicht nur die reine additive Drucktechnologie, die den ingenieurtechnischen Vorteil erbringt, sondern bereits das Design mit Hilfe sogenannter numerical topology optimization tools, Software, um mathematische Probleme numerisch zu lösen. Konventionelle Entwürfe sind häufig stabiler, als sie sein müssen – und das an Stellen, an denen Bauteile gar nicht besonders robust sein müssen. Das können Antennenhalterungen sein, Satellitengehäuse oder eben Räder von einem Mond-Rover. Diese nicht benötigte Stützmasse erzeugt in jedem Fall Gewicht und Kosten.
Kulturwandel durch Software
Topologieoptimierung ist eine echte Herausforderung für Ingenieure, weil sie den traditionellen Entwicklungsprozess auf den Kopf stellt. „Normalerweise schaue ich mir als Ingenieur die Punkte an, an denen zwei Teile miteinander verbunden werden und zeichne sie ein“, sagt Steven Catt, AM-Ingenieur bei Thales, einem großen Luft- und Raumfahrtkonzern aus Frankreich. „Einem Optimierungswerkzeug hingegen gebe ich lediglich bestimmte Spezifikationen für ein Teil ein. Die Algorithmen der Software erzeugen dann optimale organische Strukturen. Das ist ein Kulturwandel.“
Häufig ähneln solche softwaredesignten und ineinanderfließenden Bauteile einer Science-Fiction-Alien-Welt. Aber so sieht eben das rechnerische Ergebnis einer Materialstruktur mit einer definierten Stabilität aus. Sie sind gleichzeitig Ausdruck der Vorteile der additiven Fertigung. Mit 3D-Druckern gelingt es viel besser, diese topologieoptimierten Designs in die Realität umzusetzen als mit herkömmlichen Methoden, bei denen Bauteile häufig aus einem Stück gefräst werden. Hohlräume wie in den Rover-Rädern und ähnliche Strukturen sind hier nahezu unmöglich.
Die gute Nachricht für Menschen im Allgemeinen und Ingenieure im Speziellen: „Die Software liefert gute Konzepte für Bauteile. Aber die errechneten Ergebnisse müssen von Ingenieuren beurteilt werden, sie müssen verstehen, was die Software mit ihrem Vorschlag quasi beabsichtigt. Sie sind nicht das Endergebnis des Designs“, sagt Catt. Selbst wenn der Rechner ein Modell eines Bauteils entworfen hat, das stabiler und leichter ist als manuelles Design, braucht es noch die Urteilskraft menschlicher Interpretation, um ein Teil als geeignet zu befinden. Ein solches Optimierungswerkzeug ist beispielsweise Z88 von Frank Rieg von der Universität Bayreuth, die als Freeware und teilweise auch als Open Source vorliegt.
Die 3D-Druck-Technik auf die Spitze treibt das Unternehmen Relativity Space aus Los Angeles. Sein fünf Meter hoher Drucker Stargate soll in den kommenden Jahren gleich die ganze Rakete drucken. Das Besondere am Stargate ist nicht einmal der Superlativ, der größte 3D-Metall-Drucker der Welt zu sein, wie seine Erbauer sagen. Das ist ein Rekord, der sicher schon bald passé ist. Was ihn ausmacht, ist vielmehr die zu Ende gedachte Philosophie des 3D-Druckens in der Raumfahrt. Allerdings nur auf der Erde. Seine ganze Tragweite wird 3D-Druck langfristig unmittelbar im Weltraum entfalten. Denn für die Entwicklung der menschlichen Zivilisation dort war bisher die Erde das größte Hindernis. Sie wirkt wie ein Gravitationsloch, aus dem nur unter großem Energieaufwand und mit hohen Kosten etwas in den Weltraum transportiert werden kann. Doch bei vielen Gegenständen ist es nicht sinnvoll, sie ins All zu transportieren.
„Wenn Astronauten auf eine Deep-Space-Mission gehen, muss man sich fragen, welche Dinge sie wohl benötigen werden“, sagt Andrew Rush, CEO von Made In Space. Das Startup aus dem Silicon Valley betreibt unter anderem zwei 3D-Drucker auf der Internationalen Raumstation (ISS). „Auf der ISS gibt es Ersatzteile im Wert von einer Milliarde US-Dollar. Das ist viel Masse, und es ist nicht einmal klar, dass sie zum Einsatz kommen. Mit einem 3D-Drucker hingegen müssen wir das alles nicht mitnehmen, wir benötigen nur einen digitalen Plan dafür. Es wird erst dann produziert, wenn es gebraucht wird.“
Natürlich kostet es auch Geld, die Drucker-Rohmasse in den Raum zu transportieren. Aber da ihre Veredelung nach dem Transport stattfindet, ist es nicht mehr notwendig, die Transportraketen im gleichen Maße so zuverlässig und entsprechend teuer zu konstruieren. Zudem müssen die derart veredelten Produkte nicht mehr so robust gebaut werden, um die strapaziösen Bedingungen eines Raketenstarts – insbesondere die enorme Belastung durch Schallwellen – auszuhalten.
KI wird einmal mit Lichtgeschwindigkeit reisen
In letzter Konsequenz eröffnet der Versand von digitalen Daten durch den Raum noch eine andere Perspektive: die Reise von Intelligenz mit Lichtgeschwindigkeit. Bisher ging der Mensch davon aus, dass diese an die technisch machbare Reisegeschwindigkeit der bemannten Raumfahrt gekoppelt ist. Doch nach Ansicht von Jürgen Schmidhuber wird es kaum der Mensch selbst sein, der physisch auf die Reise geht, sondern vor allem digitale künstliche Intelligenz in Form von Funkwellen.
Schmidhuber ist Informatiker und wissenschaftlicher Direktor am schweizerischen Dalle-Molle-Forschungsinstitut für Künstliche Intelligenz (IDSIA, Istituto Dalle Molle di Studi sull’Intelligenza Artificiale). Seine Arbeiten über maschinelles Lernen und künstliche neuronale Netze sind bereits als Mustererkenner bei den digitalen Riesen des Silicon Valley im Einsatz – unter anderem bei Google, Apple und Facebook. Jedes Mal, wenn sich ein Nutzer online den Textschnipsel eines viralen Facebook-Posts übersetzen lässt, geschieht das mit Hilfe einer Software, deren Prinzip auf sogenannten rückgekoppelten neuronalen Netzen (RNN) aus Schmidhubers Labor basiert. Das sind selbstlernende Systeme, die umso besser werden, je mehr bereits bekannte Daten ihnen zum Abgleich und Lernen zur Verfügung stehen – perfekt geeignet für die kalifornischen Daten-Aggregatoren.
Schmidhubers Vordeutung geht jedoch weit darüber hinaus. Er gibt sich davon überzeugt, dass den Weltraum eine Roboterzivilisation kolonisieren wird, da es dort viel mehr Ressourcen als in der irdischen Biosphäre gebe. „Alleine die dort verfügbare Sonnenergie ist um neun Zehnerpotenzen größer als auf der Erde. Im Asteroidengürtel und sonst wo im Sonnensystem gibt es außerdem Rohstoffe für unzählige sich selbst reproduzierende Roboterfabriken“, sagt Schmidhuber. Diese zweifellos kühne Rechnung erfordert eine Erklärung: Zwar sind viele ressourcenreiche Bereiche im Sonnensystem wie der Asteroidengürtel weit von der Erde entfernt und die Strahlungsintensität dementsprechend niedriger. Dafür könnten Fotozellen die Sonnenstrahlen dort rund um die Uhr, unbehindert von Platzproblemen und von keiner Atmosphäre gefiltert, direkt in Energie umwandeln. Schmidhubers fantastische Angabe ist also weniger eine konkrete Zahl, sondern illustriert eher das Potenzial solarer Energiegewinnung im Weltraum.
Roboterzivilisation soll interstellare Reisen ermöglichen
Außerdem fehlt es einer solchen Roboterfabrik derzeit am Ingenieur-Know-how und ist deshalb auch für Schmidhuber noch Zukunftsmusik. Er betrachtet die Roboterzivilisation aber als absehbare Entwicklung. Wenn diese sich erst einmal im Sonnensystem physisch etabliert hat, spricht dann nicht mehr viel gegen interstellare Reisen. „Sobald es in der Nähe anderer Sterne geeignete Empfänger und sonstige Infrastruktur gibt, kann der Verstand eines Roboters elegant die Lichtjahre überwinden – als digitale Information per Radiowelle.“
Schmidhubers Prognosen zur Zukunft der KI beruhen unter anderem auf der anhaltenden Verbilligung von Rechenleistung. „Wir haben sehr stark von der Videospielindustrie profitiert. Diese Branche baut seit Jahren billige Rechner für junge Spieler.“ Deren Leistung sei für die vielen Matrix-Multiplikationen notwendig, die man braucht, um dreidimensionale virtuelle Spielwelten zu simulieren. „Es hat sich herausgestellt, dass unsere neuronalen Netzwerke sehr ähnliche Operationen brauchen. Mit Hilfe dieses Geschenks der Spieleindustrie konnten wir schon 2011 unsere Systeme innerhalb einer Woche so gut trainieren wie früher nur in einem Jahr.“
Diese Beobachtung lässt sich in eine Faustregel stecken, ganz ähnlich wie das Moor’sche Gesetz, das jahrzehntelang die Entwicklungsgeschwindigkeit von integrierten Schaltkreisen beschrieb. „Alle fünf Jahre werden Computer pro Dollar zehnmal schneller“, sagt Schmidhuber. Konrad Zuses erste Rechenmaschinen aus den 1930ern konnten nur eine Operation pro Sekunde ausführen, heute seien Rechner 10^15-mal schneller für denselben Preis. „Derzeit haben große künstliche neuronale Netze etwa eine Milliarde Verbindungen. Extrapoliert man diesen Trend, werden wir in 30 Jahren über vergleichsweise preiswerte Netze mit einer Million Milliarden elektronischen Verknüpfungen verfügen, so viel wie im Menschenhirn, aber viel schneller. Bald darauf werden billige Computer wohl mehr Rechenkraft haben als alle zehn Milliarden Menschengehirne zusammen. Und auch das wird noch lange nicht das Ende der Entwicklung sein.“
Simulationen der Raumfahrt
Zurück zu den Anwendungen der Gegenwart. Rechenkraft reist zwar noch nicht durch Raum und Zeit, kann aber beispielsweise bei der Stabilisierung von Raketen in der Startphase helfen, denn die ist für Raketen in der Regel am heikelsten. Faustino Gomez, ein ehemaliger Mitarbeiter in Schmidhubers Team, hat beispielsweise versucht, selbstlernende neuronale Netzwerke bei der Steuerung der Interorbital Systems RSX-2 einzusetzen, einer kleinen suborbitalen Rakete mit vier kleinen Flüssigkeitstriebwerken als Besonderheit. In der Regel werden Höhenraketen aus Kostengründen lediglich mit Leitwerken stabilisiert. Sie bedeuten allerdings zusätzliches Gewicht und Widerstand und gehen daher auf Kosten der erreichbaren Flughöhe. Deswegen ließ Gomez die Rakete mit verschiedenen Leitwerksgrößen und außerdem ganz ohne Leitwerk fliegen, gesteuert lediglich durch drosselbaren Schub der vier Triebwerke. Tatsächlich stieg die Rakete ohne Leitwerke 20 Kilometer höher auf als die anderen Varianten – allerdings nur virtuell, denn es handelte sich um eine Simulation.
Computergestützte Flugsteuerung ist schon seit den Gemini-Missionen im Einsatz, und auch für die Mondladung wurde mit viel Aufwand am MIT der Apollo Guidance Computer entwickelt (berühmt-berüchtigt ist allerdings die Fehlermeldung des überlasteten Autopiloten während der Apollo 11-Landung, so dass Neil Armstrong am Ende selber den Steuerknüppel übernahm). Neu ist, dass sich das Kontrollsystem die Kenntnisse über das Verhalten der Rakete ohne große Vorgaben selbst aneignet, was es vor allem für weniger üppig ausgestattete Unternehmungen als die der Nasa interessant macht.
Die amerikanische Raumfahrtbehörde kann hingegen auf die Rechenkraft von Supercomputern zurückgreifen und auf Software, welche die kritischen Momente eines Flugs darstellt. Am Ames Research Center, im Herzen des Silicon Valley, steht der Supercomputer Pleiades und rechnet mit fast sechs Petaflops die anspruchsvollsten Aufgaben von Astronomie und Raumfahrt durch. Dazu gehören akademische Fragestellungen wie das Verhalten dunkler Materie innerhalb von Galaxien und das Verhalten von ausgebrannten Boostern, wenn sie sich von der Hauptstufe einer Rakete trennen. Unter anderem haben die Ames-Wissenschaftler eine preisgekrönte Software geschrieben, Pegasus 5, die sogenannte Overset Grids berechnet. Das sind zahllose Oberflächen abbildende virtuelle Gitter oder Raster, die zugleich deren unterschiedliche Eigenschaften abbilden.
Für diese hochkomplexe und fehleranfällige Aufgabe musste die Nasa in der Vergangenheit ganze Mannjahre einkalkulieren. Sie sind aber Voraussetzung, um später die Strömungsverhältnisse an komplexen Oberflächen zu berechnen (Pegasus-5-Dokumentation und Basisinformation zu Overset Grids). Sie wird nicht nur von der Nasa, sondern auch von privaten Raumfahrtunternehmen wie SpaceX und Sierra Nevada Corporation verwendet. Pegasus ist nur eine von vielen Anwendungen, die den Raumfahrern inzwischen zur Verfügung stehen. Wer beispielsweise eine kleine Cube-Sat-Konstellation betreiben will, muss die komplizierte Steuerungssoftware nicht selbst schreiben – er kauft sie einfach. Zahlreiche Software-Startups haben die Raumfahrt als Nische entdeckt und bieten Spezialsoftware für Raumfahrzeuge an, Betriebssysteme, Telemetrie sowie Kommunikationssoftware und Dokumentation – alles eine Frage des Preises.
Vom Raumfahrtunternehmen zum Digital-Business
Doch handelt es sich bei all diesen Entwicklungen zweifellos um digitale Hilfsprodukte, die Raumfahrt leichter machen. Sie sind nicht ihr Beweggrund. Raumfahrt, wie wir sie kennen, hat bisher im Wesentlichen drei Motive, wissenschaftliche, militärische und kommerzielle. Letztere waren jahrzehntelang geprägt durch Kommunikationssatelliten im geostationären Orbit, Wettervorhersage und Standortbestimmung. Doch die kleine Cube-Sat-Revolution hat für weitere, stark wachsende Geschäftsmodelle gesorgt. Hier kommen die selbstlernenden Netzwerke wie die von Schmidhuber bereits heute zum Einsatz. Allerdings nicht als raumfahrende Spezies, sondern als Mustererkennung bei der Auswertung von Satellitenbildern. Die enormen Fortschritte auf diesem Gebiet in den vergangenen zehn Jahren haben dazu geführt, dass zahlreiche Unternehmen gegründet wurden, die versuchen, diese Fähigkeiten in bare Münze zu verwandeln.
„Noch vor sechs Jahren haben wir uns nicht vorstellen können, wie viel Fortschritte wir bei der Bilderkennung machen würden“, sagt Robbie Schingler, Mitgründer von Planet. Das in San Francisco ansässige Unternehmen mit Präsenz in Berlin baut und betreibt etwa 200 Satelliten, laut Planet die größte private Satellitenflotte der Welt. Die Kameras ihrer Klein- und Kleinstsatelliten können teilweise Objekte von 80 Zentimeter Größe erkennen. Die sich quasi überschlagende Entwicklung beim Maschinenlernen hat Planet ein deutlich ambitionierteres Ziel ins Auge fassen lassen als geplant.
Ursprünglich wollte Planet die Erde einmal täglich ablichten. Aber Kunden haben per se kein Interesse an Bildern, sondern lediglich an den Informationen, die sie enthalten. Daher hat sich Planet von einem Unternehmen, das nur Bilder aufnimmt, zusätzlich zu einem gewandelt, das sie auswertet – eine Wandlung vom Satellitenbetreiber zum Digitalunternehmen. „Über die Mustererkennung sollen die Maschinen in Zukunft erkennen, ob eine Landschaft auf einem Bild dünn oder dicht besiedelt ist, indem es die Anzahl der Gebäude zählt. Es ist, als würden wir die physische Welt digitalisieren und sie durchsuchbar machen. Und je mehr Bilder wir machen, desto besser werden die Algorithmen und die Qualität der Objekterkennung.“
Nun ist das seit Google Streetmaps an sich scheinbar nichts Neues. Besonders sind allerdings die räumliche und zeitliche Dimension und der Automatisierungsgrad. Dazu kommen – unter anderem – Geschäftsmodelle, die unter anderem Spire verfolgt: die Auswertung von Schiffsdaten und neue Methoden für die Wettervorhersage durch die Auswertung von GPS-Signalen, die den riesigen Markt der Wetterbeobachtung aufmischen.
Wie fortgeschritten der digitale Erkennungsprozess ist, demonstriert ein anderes bedeutendes Unternehmen: Spacehow. Es ist bekannt dafür, dass es für die Finanznachrichtenagentur Bloomberg die Daten für wirtschaftliche Indices liefert, die von Satelliten gewonnen und mit intelligenter Software ausgewertet werden. Der sogenannte Africa Night Light Index beispielsweise soll die wirtschaftliche Entwicklung zahlreicher afrikanischer Länder abbilden, die wegen Datenmangel sonst nur schwer zu erfassen ist.
Der Gedanke dahinter: Die wirtschaftliche Prosperität und damit auch die Entwicklung lässt sich über das Licht erfassen, das in den betreffenden Ländern nachts emittiert und von Satelliten aufgenommen wird. Mit dem gleichen Verfahren lassen sich die Ölreserven ganzer Länder errechnen, indem man Zahl und Füllstand von Tanklagern ermittelt (über den Schattenwurf der Tankabdeckungen, die mit unterschiedlichen Pegelständen sinken oder steigen). Auch die Umsatzprognosen großer Einzelhandelsunternehmen lassen sich extrapolieren, indem man die Zahl der Autos auf ihren Parkplätzen über die Zeit zählt. Die Zahl denkbarer Anwendungen mit digitaler Bildauswertung steigt unablässig und es ist kein Ende in Sicht.
Symbiose von digitaler Intelligenzija und Kapital
Die digitalen Geschäftsmodelle haben der kommerziellen Raumfahrt einen völlig neuen Impuls verliehen. Denn ihre Keimzelle ist das Silicon Valley. Hier kommen zwei Komponenten zusammen, die neuen Ideen einen entscheidenden Kick geben: Gründer mit digitalen Geschäftsmodellen sowie Risikokapital, das die Umsetzung dieser Ideen ermöglicht. Seit dem Jahr 2000 sind bereits 20 Milliarden Dollar in die private Raumfahrt 2.0 geflossen, ein Großteil davon nach Kalifornien.
Das Kuriose: Viele der Startups in der Region definieren sich gar nicht erst als Raumfahrt-, sondern vor allem als digitale Analyse-Unternehmen. Denn es ist Big Data, was eine Geschäftsidee für Silicon-Valley-Investoren interessant macht. Das hat zur Folge, dass es Unternehmen gibt, die sich sogar als Nicht-Raumfahrtunternehmen definieren, selbst wenn sie eine Satellitenkonstellation unterhalten. „Unser gesamtes Geschäft ist ein digitales“, sagt Robbie Schingler von Planet und auch Peter Platzer von Spire sagt: „Wir sind eine Datenfirma. Wenn man sich ein typisches Datenanalyse-Unternehmen und sein geistiges Eigentum anschaut, dann liegt das im Softwarebereich. Das ist Big Data, Mathematik.“
Für Platzer ist also digitaler Code der Kern seines Unternehmens. Die Hardware Satellit ist nur Mittel zum Zweck. „Wir haben festgestellt, dass andere Analyse-Unternehmen ihre Daten nicht selbst kontrollieren. Beispielsweise hat Twitter eine Schnittstelle freigegeben, so dass andere Unternehmen für die Plattform eigene Produkte erstellen konnten. Dann hat Twitter mehr oder weniger von einem Tag auf den anderen diese Schnittstelle abgestellt, und da waren die alle weg. Was wir uns gesagt haben: Wir wollen die eigentlichen Kerndaten selbst kontrollieren. Das heißt, wir haben im Vorfeld unseres Datenanalyse-Unternehmens ein Datenerstellungsunternehmen.“ Platzer betrachtet Raumfahrt als Teil von etwas Größerem, nämlich der datenverarbeitenden Industrie. Ungewöhnlich sei nur der Ort, wo sie erfasst würden: der Weltraum. „Meiner Meinung nach investiert das Silicon Valley überhaupt nicht in Raumfahrt, sondern in Daten. Woher die kommen, ist egal.“
Diese hintergründige Entwicklung wird selten wahrgenommen. Zu stark ist die Leuchtkraft des Raumtransports mit Raketen und Raumschiffen sowie populären Galionsfiguren wie Elon Musk – der ja selber ein Geschöpf der Digitalisierung und des Valleys ist. Mag sein, dass eine Software für die Auswertung von Satellitenbildern nicht so attraktiv ist wie die Marspläne von SpaceX – wenn sie überhaupt noch etwas mit Raumfahrt zu tun haben. Aber sie sind der Nährboden für die kommerzielle Raumfahrt. Denn diese Unternehmen erzeugen mit ihrem Hunger nach Satellitendaten die entsprechende Nachfrage nach Starts und sorgen dafür, dass Kapital in den Raumtransport fließt. Und so gilt für alle Fans von Elon Musk und Jünger des Deep Space: Ohne Satelliten im niedrigen Erdorbit und das Geld, das sie verdienen, wird es vorerst keine Reise zum Mars und zu den Sternen geben.
Dieser Beitrag erschien mit dem Titel „Die Digitalisierung des Weltraums“ zuerst bei Golem.de.